„Hoy noche occurió la gran ruptura!“ sagt die Bäckersfrau mit einem Lächeln. Ich verstehe nur Bahnhof, obwohl mein mein Spanisch recht fließend ist. Heute Nacht ereignete sich also der Durchbruch? Dabei hatten wir gerade noch über die üblichen Sachen geplaudert, wo wir her seien, wo wir hin führen und so weiter. Wir sind in Calafate im südlichen Patagonien und decken uns gerade ein mit Vorräten für unsere Fahrt zum berühmten Perito Moreno Gletscher.
Die Bäckerin versucht es nochmal: „Por fin la puerta de hielo rompió!“ Das Eistor ist endlich kaputt gegangen? Nun gut, wie auch immer, denke ich, bedanke mich und bezahle das duftende Brot. Erst in ein paar Stunden wird mir wie Schuppen von den Augen fallen, was mir die Argentinierin sagen wollte, und was für ein irrsinniges Glück wir haben, genau an diesem Morgen zum Gletscher unterwegs zu sein.
Es ist der 12. März 2018, wir sind seit zwei Monaten auf Reisen in unserem zum Expeditionsmobil umgebauten Mowag Duro. Wir, das ist mein Mann Rallo, unsere vierjährigen Zwillinge Tino und Emil, und ich. Und seit vorgestern auch meine Mama Christa, die jetzt einen Monat lang mit uns das Reiseleben im Brummi – so hatten die Kinder den LKW spontan genannt – teilen wird.
Perito Moreno – Gletscher auf Speed
Schon die Fahrt zum Gletscher ist ein Erlebnis für die Sinne: entlang am riesigen Lago Argentino, azurblau und umringt von schneebedeckten Andengipfeln. Durch Nothofagus-Wälder, deren Bäume sich geduckt und knorrig dem Patagonischen Dauerwind entgegen stemmen. Aber was wir dann sehen, toppt alles: aus einem weit entfernten Bergtal fließt ein Eisstrom gewaltigen Ausmaßes. Er schiebt sich weit über den See. Seine Gletscherfront ragt wie die Festungsmauer eines riesenhaften Eisschlosses empor, fast siebzig Meter hoch, fünf Kilometer breit, ein scharf gezackter Eisturm am anderen.
Diese Eistürme, beziehungsweise ihr spektakuläres Ende, ist auch die eigentliche Attraktion, für die Tausende Touristen jedes Jahr hierher pilgern: Der Perito Moreno schiebt sich im Jahr rund 800 Meter vorwärts und ist damit einer der schnellsten Gletscher der Welt. Wo man anderswo Tage und Wochen warten muss, bis ein Gletscher geruht zu kalben, bekommt man hier meist schon nach einer halben Stunde einen Eisabbruch zu sehen. Doch heute ist alles anders. Gegenüber der blau aufragenden Gletscherfront, also auf der Besucherseite, steht ein einzelner, etwa zwanzig Meter hoher Eisturm, der in der Mittagssone langsam zerbröckelt. Der See vor dem Gletscher sieht aus wie ein reißender Fluss, Eisberge treiben vorbei. Jetzt wird uns klar, dass wir gerade Zeugen eines seltenen Naturspektakels werden.
Die Gletscherzunge schiebt sich alle paar Jahre vor bis auf das Ufer der Landzunge, auf der wir stehen. Dabei wird der südliche Teil des Sees vom Rest abgeschnitten. Der Eisdamm staut dann das Wasser auf der einen Seite mehrere Meter auf. Der Wasserdruck wiederum nagt an der Barriere. Es bildet sich zunächst ein Gletschertor, das irgendwann mit großem Getöse einstürzt. Dann gleicht der See seine Wasserpegel wieder aus, und alles beginnt von vorne. Das war es also, was die Bäckersfrau mir mitteilen wollte. In der Nacht des 12. März stürzte der Eisdamm ein und der aufgestaute Teil des Sees brach aus. Seit Monaten warteten alle auf genau dieses Ereignis. Wir können noch die Folgen bewundern: links der Gletscherzunge war der See zwölf Meter höher gewesen als rechts, und jetzt strömt alles dem neuen Gleichgewicht entgegen. Alles ist in Bewegung, als ob der Perito Moreno nun mit frischer Kraft nach vorne schiebt, da der Gegendruck der Eisbarriere plötzlich fehlt.
Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus. Der Gletscher kalbt einen Eisberg nach dem anderen. Sie sind groß wie Häuser, donnern mit gewaltigen Gischtfontänen in die Fluten und treiben dann weiter in den Lago Argentino. Jubelschreie und Applaus tönen von der Besuchertribüne. Es ist ein Naturschauspiel der Superlative.
Land unter in Calafate, Patagonien
Noch ganz überwältigt von dem Erlebnis suchen wir uns ein paar Stunden später einen Schlafplatz. Natürlich am Seeufer, denn wir campen gerne am Wasser. Beim Abendessen klopft es plötzlich an der Tür. Es ist die Küstenwache. Sie bitten uns, dringend einen höher gelegenen Platz aufzusuchen, da der Seepegel schnell steigen würde. Klar, darüber hatten wir nicht wirklich nachgedacht, und schnell machen wir uns wieder abfahrbereit. Wir dürfen auf dem Gelände der Präfektur übernachten, die ein paar Meter über dem See liegt. Tatsächlich kommt über Nacht die über zwei Jahre vom Gletscher rückgestaute Wassermenge im unteren Lago Argentino an. In Calafate wird der Uferbereich überflutet, mehrere Familien werden evakuiert, die Lokalpresse spricht sogar von einem „Mini-Tsunami“. Dank den Schutzengeln der Küstenwache bleiben uns die nassen Füsse oder auch ein Absaufen unseres Gefährts samt Inventar und Insassen in den plötzlich freigesetzten Wassermassen erspart. Glück gehabt!
El Chalten, Patagonien: Prachtberge und Wappenvögel
Ein paar Tage später starten wir Richtung Norden auf der berühmten „Ruta 40“. Natürlich machen wir einen Abstecher zum Bergdorf El Chalten, dem Ausgangspunkt für Patagoniens Vorzeigeberge Fitz Roy und Cerro Torre. Diese weltberühmten Klettergipfel einmal mit eigenen Augen zu sehen stand schon vor unserer Abreise ganz oben auf unserer Wunschliste. Wir wandern ein paar Tage in der herrlichen Bergwelt und freuen uns an den vielen Kondoren mit ihrem majestätischen Gleitflug.
Natürlich gehören diese Highlights auf die Agenda einer Reise durch Patagonien. Nach so vielen ausgetretenen Pfaden und Touristenrummel steht uns aber jetzt der Sinn nach Einsamkeit und Abenteuer. Mein Bruder hatte uns zu Hause einen Floh ins Ohr gesetzt: Es gäbe da einen abgelegenen Grenzpass, den Paso Mayer. Wir sollten doch versuchen, ihn mit unserem Brummi zu überqueren. Eigentlich ist es ein Übergang für Fussgänger und Fahrradfahrer, doch einige wenige Fahrzeuge im Jahr schaffen die extreme Passage. Sie führt nach Chile und zum Beginn der Carretera Austral, der Traumstraße, die unsere nächste Reiseetappe prägen soll. Doch es gibt ein Problem: auf der argentinischen Seite hört die Straße zwölf Kilometer vor der chilenischen Grenze auf. Dazwischen liegt das Flussbett des Rio Mayer. Ob wir es schaffen werden, mit unserem Achttonner einen Weg durch diese Wasserwildnis zu finden, ist fraglich. Die spärlichen Informationen sind wenig ermutigend. Aber dieses Abenteuer reizt uns so sehr, dass wir es trotzdem versuchen wollen. Schließlich hatten wir uns für einen geländegängigen LKW entschieden, damit wir vor ruppigen Passagen nicht kehrt machen müssen.
Paso Rio Mayer: ohne Straße nach Chile
Kaum biegen wir von der Ruta 40 ab, beginnt die Einsamkeit. Eine 70 Kilometer lange Piste führt durch leuchtend gelbe Pampa, die „Meseta de la Muerte“. Sie führt in ein wunderschönes Hochtal voller Wildgänse und Guanacos. Weit vor uns liegen die frisch verschneiten Gipfel der chilenischen Anden. Als wir die letzten Estancias hinter uns lassen, wird die Piste zur Fahrspur. Der Rio Mayer ist noch weit, doch plötzlich treffen wir auf den ersten Fluss, den es zu überqueren gilt. Wir sind ein bisschen nervös – es ist die allererste Furt für unseren Duro. Ich laufe vorschriftsmäßig ans andere Ufer. Das Wasser ist eiskalt, aber nur gut knietief – kein ernst zu nehmendes Hindernis, sondern eine lustvolle Taufe.
Kurz vor Sonnenuntergang nähern wir uns dem argentinischen Grenzposten „El Bello“ und damit dem Straßenende. Zwei Grenzbeamte kommen uns entgegen, sichtlich erstaunt, eine ganze Familie inklusive Kleinkinder und Oma vor ihrer abgelegenen Dienststelle vorzufinden. Es folgt ein Gespräch mit sehr viel Kopfschütteln.
„Da kommt ihr nie durch“
Nach Chile mit unserem Gefährt? Keine Chance. Sie gestikulieren in Richtung ihres Unimogs und sagen, sie selbst könnten auch nicht hinüberfahren. Es gäbe eine Hängebrücke für Fußgänger und Radler, aber keine Möglichkeit, mit einem Fahrzeug die chilenische Grenze zu erreichen.
Nun hatten wir nicht wirklich mit begeisterter Zustimmung und kompletter Entwarnung gerechnet, aber dennoch gehen wir an diesem Abend etwas ernüchtert ins Bett. Ob sich das Weiterfahren lohnt? Trotz vieler Zweifel entscheiden wir gemeinsam, noch nicht umzukehren. Wir sind so weit gefahren, dass wir uns morgen auf jeden Fall das Flusstal des Rio Mayer anschauen wollen. Bis dahin sind es noch etwa fünf spannende Kilometer durch kaum befahrenes Gebiet.
Am nächsten Tag ist die Stimmung bei den Grenzern plötzlich eine ganz andere. Als wir unsere Pässe stempeln lassen und offiziell aus Argentinien ausreisen, sitzt ein alter Gaucho in der Dienststube am Ofen. Er kam heute früh mit seinem Pferd aus Chile herübergeritten. Das bedeutet, dass der Fluss zumindest auf einem unerschrockenen Vierbeiner überquert werden kann – vielleicht gilt das auch für einen Dreiachser? Alle Beamten sind irgendwie gut drauf und ermutigen uns fast dazu, weiterzufahren. Einer zeichnet uns sogar eine Skizze von der besten Stelle für die schwierige Flussquerung. Dem Vorgesetzten sollen wir ein handgeschriebenes Protokoll signieren, in dem er uns davor warnt, mit unserem LKW die riskante Strecke zu fahren. Das tun wir, und nach viel freudigem Händeschütteln und Glückwünschen machen wir uns auf den Weg.
Das Gelände verdient wirklich das Attribut Offroad. Es gibt keine Straße mehr, sondern nur noch eine rudimentäre Fahrspur. Es ist schlammig und nass, und oft stehen die Bäume so dicht und niedrig, dass wir nicht weiterkommen. Manchmal müssen wir die Säge auspacken, um uns einen schmalen Durchlass freizuschneiden. Nach zwei Stunden anstrengender Fahrerei stehen wir auf einem Hügel und sehen zum ersten Mal das Flussbett des Rio Mayer in seiner ganzen wilden Pracht. In der Ferne können wir auch den chilenischen Grenzposten erkennen. Dennoch kein Grund zum Jubel, denn leider wird die Fahrspur hier plötzlich zum steilen Fußpfad. Hier kommen wir nicht weiter. Also drehen wir um, fahren die ganze Strecke zurück bis zum Grenzposten und nehmen eine andere Fahrspur. Sie führt über schlammige Kuhweiden mit diversen Mudpools und durch einen verwunschenen Urwald voller Totholz.
Jetzt zeigt sich, was für ein ausgeklügeltes Geländefahrzeug der Duro ist: Die De-Dion Achsen erlauben eine große Verschränkung mit viel Bodenfreiheit. Sie sind so konstruiert, dass sich Vorder- und Hinterachse gegenseitig stabilisieren und die Wankneigung minimiert wird. Oft wühlen alle sechs Räder gleichzeitig durch den Schlamm und man spürt am einsetzenden Schub, daß die Torsendifferentiale arbeiten und sich unser „Haus“ selbst durch die tiefsten Matschlöcher arbeitet. Rallo ist in seinem Element, trotz aller Schwierigkeiten breitet sich oft ein Grinsen über seinem konzentrierten Gesicht aus. Aber mit unseren 3,90 Meter Höhe kommen wir nur langsam vorwärts, müssen oft um tiefhängende Äste herumrangieren oder Baumstämmen ausweichen. Nach über fünf Stunden Fahrt haben wir gerade einmal vier Kilometer zurückgelegt. Erst am Nachmittag kommt dann der ersehnte Moment: Die Fahrspur senkt sich hin zum Flussbett des Rio Mayer.
Vor uns ein gigantisches Fluss-Labyrinth
Naiv dachte ich, wenn wir erst mal den Fluss erreicht haben, ist die weitere Strecke klar. Doch weit gefehlt. Vielleicht bin ich von zahmen Alpenflüssen ausgegangen, aber die haben nichts gemein mit diesem ungezähmten Strom mit seinen gefühlt hundert Armen. Vor uns liegt ein weitläufiges Labyrinth aus Flussläufen, das ich mit nichts vergleichen kann, was ich bisher gesehen habe. Nun geht die Sucherei also erst richtig los. Wo geht es weiter? Ist das nicht ein Stück Fahrspur? Stimmt die Richtung noch? Es ist wie ein Glücksspiel mit ungewissem Ausgang. Inzwischen drängen wir uns zu fünft im zweisitzigen Cockpit und jeder sucht, fiebert mit, kommentiert. Oft verlieren wir die Fahrspur, machen über weite Strecken unsere eigene, stoßen dann wieder auf Spuren. Zu unserer Erleichterung ist der Untergrund kiesig und meist fest, die Furten alle recht flach. Wir durchfahren unzählige Flussarme, bis wir uns fast wie in einem Amphibienfahrzeug fühlen.
Gegen Abend erreichen wir die Schlüsselstelle: Aus nördlicher Richtung strömt ein zweiter Fluss dem Rio Mayer entgegen und mündet genau vor uns: der Rio Carrera. Von seinem Wasserstand hängt es ab, ob wir nach Chile kommen oder nicht. Der erste Blick ist entmutigend. Im Gegensatz zu dem flachen, weit aufgefächerten Flussbett des Rio Mayer strömt hier ein tiefer, schneller Fluss. Es ist schon spät und wir sind müde nach dem langen und aufregenden Fahrtag. Wir geben die Suche nach der angeblich markierten Furtstelle auf und richten unser Camp ein. Das Rauschen des vielen Wassers um uns herum bereitet mir schlechte Träume. Bilder meiner schlimmsten Ängste geistern mir durch den Kopf: unser umgekippter Brummi, im Fluss treibend, Wasserfontänen im Wohnraum, verzweifelte Eltern mit schreienden Kindern im eiskalten Strom. Wieso machen wir das hier eigentlich?
Einmal drüber schlafen und ein guter Latte Macchiato mit aufgebackenen Croissants am nächsten Morgen vertreiben die bösen Geister. Mit frischem Optimismus starten wir wieder und suchen das Ufer ab nach der Stelle, die uns die Grenzpolizei beschrieben hat. Am Zusammenfluss von Rio Mayer und Rio Carrera sei die einzige Stelle, an der eine Querung möglich ist. Hier wäre auch der Gaucho mit seinem Pferd herübergeritten. Das Pferd muss verdammt gut schwimmen können, denke ich mir im Stillen. Die Strömung des Rio Carrera ist mächtig, zur Freude unserer Jungs, die ein „Schiffchen“ nach dem anderen in den Fluss schleudern. Tatsächlich finden wir eine Wegmarkierung mitten im Fluss. Doch hier soll die Furt verlaufen? Mit Ferngläsern suchen wir nach Spuren oder einer fahrbaren Stelle am anderen, weit entfernten Ufer. Doch wir sehen nur eine steile Böschung und dichten Wald.
Plötzlich hören wir Motorengeräusche. Ein Traktor arbeitet sich langsam auf uns zu. Die Grenzpatroullie von „El Bello“ steigt aus und begrüßt uns wie alte Freunde. Sie seien auf dem Weg zu einem Treffen mit ihren chilenischen Kollegen. Na prima, denken wir, die können uns ja den richtigen Weg zeigen. Außerdem wäre dann gleich das richtige Bergungsfahrzeug vor Ort, wenn wir stecken blieben. Aber es kommt ganz anders. Die Argentinier suchen eine knappe Stunde flussauf und flussab, befinden die Strömung als zu stark, das Wasser zu tief und parken den Traktor. Nass bis zur Hüfte nehmen sie schließlich die Hängebrücke, um ihren Treffpunkt bei der chilenischen Grenzpolizei zu erreichen.
Rallo und ich stehen ratlos vor dem geparkten Bulldog. Sollte es uns nicht Warnung genug sein, wenn die Locals sich nicht einmal mit diesem Gefährt fahren trauen?
Die Strömung reißt ihn mit
Aber noch gibt Rallo nicht auf. Er wühlt den dicken Neopren aus der Surfkiste. Rallo will zu Fuß durch den Fluss, die flachste Stelle finden, eine Ausfahrt auf der anderen Seite suchen und die letzten vier Kilometer bis zum chilenischen Grenzposten erkunden. Das Wasser ist eisig, es stürmt. Rallo überquert die ersten Flussarme des Rio Carrera, bleibt immer wieder stehen und sucht nach Spuren – Fehlanzeige. Die Tiefe des Hauptflusslaufes ist schwer zu schätzen, das Wasser ist von der Schneeschmelze milchig. Wir sehen Rallo nur noch mit dem Fernglas, so weit ist er schon im Fusslabyrinth verschwunden. Er versucht es an einer vielversprechenden Stelle, aber das Wasser wird tiefer und schneller. Plötzlich reißt ihn die Strömung mit. Er schwimmt eine Weile und kommt mit einem Versatz von gut fünfzig Metern am anderen Ufer an. Das sieht nicht gut aus, denke ich mir.
Es dauert über zwei Stunden, bis Rallo wieder kommt. Beim Rückweg findet er immerhin eine Stelle, an der ihm das Wasser nur bis zum Bauch geht. Aber sein Gesichtsausdruck zeigt mir schon, dass es nicht gut aussieht. „Da drüben ist kein Weiterkommen“ schreit er mir gegen den Wind zu. Abgesehen von der gefährlichen Flussquerung warten am anderen Ufer mehrere Kilometer Sumpf ohne echte Fahrspur. Rallo ist dort knöcheltief eingesunken. Kaum auszudenken, wie sich der Morast unter acht Tonnen Fahrzeuggewicht verhielte. Uns wird klar: selbst wenn wir den Rio Carrera durchfahren könnten, wäre spätestens hier Ende Gelände. Möglicherweise würden wir unseren Brummi für immer versenken.
Damit fallen endgültig die Würfel. Wir müssen umkehren. Das ist bitter, und für eine Weile sind wir alle, vor allem Rallo und ich, enttäuscht und traurig. Die chilenische Grenze ist in Sichtweite, und doch unerreichbar. Erst jetzt wissen wir, dass es für eine erfolgreiche Befahrung des Paso Mayer eine unabdingbare Voraussetzung gibt: Es geht nur im Winter. Wenn in der kältesten Jahreszeit das Schmelzwasser in Schnee und Eis gebunden ist, sind die Pegel beider Flüsse niedriger und die Strömung schwächer. Vor allem aber ist der Sumpf hart gefroren und damit befahrbar. Wir sind etwa zwei Monate zu früh dran.
Die Freiheit, zu bleiben
Die bedrückte Stimmung verfliegt, als wir im Abendlicht im Flussbett des Rio Mayer zurückfahren. Die Gegend ist so großartig, so wild und einsam, wie wir noch keine andere in Südamerika gesehen haben. Mit unserem Expeditionsmobil in so aufregendem Gelände kreuz und quer zu fahren und sich im weglosen Labyrinth zurechtzufinden war ein prägendes und unvergessliches Erlebnis. Wir sind uns einig: Wir bereuen keine Sekunde dieses Abenteuers.
Ein paar Tage später sitzen wir gemütlich am Lagerfeuer, wieder wenige Kilometer von Chile entfernt, aber diesmal mit einer lückenlosen Piste vor uns. Wir hatten mit den letzten Spritreserven gerade noch die nächste Tankstelle auf der Ruta 40 erreicht. Etwa 200 Kilometer weiter nördlich liegt der südlichste fahrbare Grenzpass zwischen Chile und Argentinien, der Paso Roballos. Langsam schrauben wir uns wieder nach oben, die Gegend ist völlig anders aber auch wunderschön. Wir passieren tiefblaue Seen, Guanacoherden und eine rote bizarre Felsenlandschaft, und sind fast für uns alleine.
Mitten auf der Strecke halten wir. Der Wind hat heute eine seiner wenigen Pausen eingelegt, es ist der erste milde Nachmittag seit Wochen. Ein Gebirgsbach schlängelt sich idyllisch durch ein Felsental, über dem Kondore kreisen. Spontan werfen wir unsere Pläne über den Haufen, heute noch bis zur Carretera Austral in Chile zu fahren. Einige Zeit später knistert das Feuer und es duftet nach Stockbrot. Heute abend strahlen nicht nur die Kinderaugen von Tino und Emil. Die Freiheit, sein Haus zu parken wo es einem gefällt, um mit den am meisten geliebten Menschen zusammen am Feuer zu sitzen wärmt mir das Herz. Und die Aussicht auf die vielen Monate und die wunderbaren Erlebnisse, die noch vor uns liegen, schmeckt mir fast noch besser als die leckeren Feuerkartoffeln.
Über uns
Wir sind Sabine und Rallo Armsen mit den inzwischen fünfjährigen Zwillingen Tino und Emil aus München. Wir wollten aus dem durchgetakteten Leben zu Hause mit seinen vorbeifliegenden Wochen und Monaten ausbrechen und uns ganz bewusst Zeit nehmen. Zeit für die schönen Dinge im Leben, für neue Erlebnisse und Erfahrungen und natürlich für die wichtigsten Menschen der Welt, unsere Kinder. Denn…
… man kann die Zeit nicht anhalten, aber man kann sie sich nehmen.
In meinem normalen Leben bin ich Filmemacherin beim ZDF. Unsere Abenteuer als Filmserie festzuhalten, ist quasi meine Berufskrankheit. Auf unserem Youtube Kanal www.zeitreise2018.de könnt ihr unsere Reise miterleben. Und schaut doch auch mal bei uns auf Instagram vorbei.